Die Uhr
Da, wo ich aufgewachsen bin, da gab es eine Uhr am Kirchturm. So eine alte, ziemlich hässliche, mit Ziffernblatt – großer Zeiger, kleiner Zeiger, und mit einem Schlagwerk: Zur Viertelstunde ein Schlag, zur halben zwei, um Viertel vor drei und zur vollen Stunde vier Schläge, gefolgt von der Anzahl Schläge – ein anderer Ton – der die Stunde benannte. Um Mittag und um Mitternacht gab es also erst vier, dann zwölf, etwas tiefere Schläge an die Glocken – und dazu gab es die Totenglocke, die um halb sechs in der Früh kundtat, wenn jemand gestorben war in der Nacht, und die Frühmess- und Hochamtsglocke.
Von jedem Haus konnte man sie sehen, die Uhr, und wo man sie nicht sah, da konnte man sie hören: Viertel nach, halb, viertel vor und volle Stunde – einer, zwei, drei, vier Schläge. Lästig, manchmal: Wenn man zu spät kam, dann wurde hämisch gefragt, ob man denn taub sei oder blind, und keine Ausrede galt irgendwas – die Kirchturmuhr, die sagte einem doch die Zeit. Und wenn einer gestorben war, das sagte sie auch.
Irgendwann hat ein ein Zugezogener geklagt gegen die Uhr, weil er meinte, das sei doch nicht nötig: So einen Lärm zu machen jede Viertelstunde, und besonders in der Nacht – und wenn jemand starb, nun, das könne man doch in der Zeitung lesen. Ja, sagten die Leute, ja – das ist unmodern, wirklich, und die Uhr durfte fortan nur noch tags, von acht bis achtzehn Uhr schlagen, und erst um halb Neun anzeigen, wenn jemand gestorben war.
Dann gab es dieses Gewitter, und der Blitzschlag traf die alte Uhr. Es hätte schlimmer kommen können, sicher: Wenn der Blitz in einem der neuen Häuser auf dem Hügel eingeschlagen wäre, oder in der Trafostation – dann wäre der Ort ohne Strom gewesen, wer weiß, wie lange. Aber er traf die Uhr auf dem Kirchturm. Und die zeigte von diesem Tag an nicht mehr die Zeit.
Also, sie zeigte die Zeit, nur nicht die richtige: Manchmal schlug sie viermal, obwohl es erst halb war, und manchmal zeigte sie Mittag noch vor dem Frühstück, und manchmal … manchmal läutete sie die Totenglocke um drei Uhr nachmittags, obwohl noch gar niemand gestorben war. Und manchmal starb jemand, wenn die Totenglocke tags zuvor …
Dann klagte jemand: Man möge die Uhr, wenn sie denn gar nicht mehr funktionierte, doch abschalten und verschrotten. Und … ja. Das tat man dann auch: Die Uhr wurde stillgelegt, und so ziemlich von jedem Haus aus kann man heute sehen, dass es dreiviertel Zwölf ist, nur hören, hören kann man das nie wieder.
Ich bin dann fortgezogen aus dem Ort. Und ich weiß noch, als ich in das Umzugsauto stieg, da war mir, als hörte ich die alte Uhr noch einmal. Vier Schläge, dann zwölf.
Und dann das Totenglöckchen.