Hubert (aus Randbezirke)

Hubert

Hubert war ein kluger Junge. Jedenfalls sagten das alle, nicht nur die Verwandten, sondern auch die Lehrer, der Pfarrer und sogar Herr Münger, der es als Studierter schließlich wissen musste.

Hubert war stolz darauf, ein kluger Junge zu sein, und beschloss, dieser Würde gerecht zu werden. Er dachte nach.
Lange und intensiv.
Schließlich, so sagte er sich, ist es gut, gründlich nachzudenken – jeder Mensch hat nur ein einziges Leben, da wäre es fahrlässig, aus Unbedachtsamkeit etwas zu verschwenden.
Worte wie ‘Unbedachtsamkeit’ und ‘fahrlässig’ benutzte Hubert schon ganz selbstverständlich, noch bevor er eingeschult wurde. Man hatte seine helle Freude an dem klugen Jungen.

Hubert versäumte niemals den Unterricht, denn dadurch liefe er Gefahr, etwas nicht zu lernen, was vielleicht einmal wichtig sein könnte.
Er versäumte auch niemals, zu einem Ehrentag zu gratulieren und sorgfältig achtete er darauf, sich zuverlässig für alles zu bedanken, was man ihm schenkte. 
Ebenso viel Wert wie auf sein Benehmen legte er auf sein Äußeres – Huber war, in jeder Situation und in jedem Lebensalter, angemessen gekleidet und adrett. Schließlich, so sagte er, wäre es nicht wieder gut zu machen, wenn er aus Nachlässigkeit oder gar aus Unlust jemanden verletzte oder eine Gelegenheit versäumte.
Hubert wuchs vom klugen Jungen zu einem klugen Mann heran, und er beharrte darauf, sich ständig und mit Sorgfalt jede Entscheidung zu überlegen, sowie alles Rechte zu tun oder gegebenenfalls zu unterlassen, was einen Schatten auf sein Leben werfen mochte.
Er dachte intensiv nach.

Als Marianne ihn anlächelte dachte er intensiver nach als je zuvor in seinem Leben, und länger – so lange, bis Marianne bereits Günter geehelicht hatte – und gelangte endlich zu dem Schluss, dass es ihm nicht richtig erschienen wäre, zurückzulächeln.
Statt dessen vollendete er sein Studium und widmete sich ernsthaft und sorgfältig den Aufgaben, die sich stellten. Schließlich hat jeder Mensch nur ein Leben, und das muss er so gut wie irgend möglich führen, sorgfältig überlegt und rational.

Er leistete Hervorragendes im Beruf, und als vernünftiger Mann verschwendete er nichts, so dass sein Vermögen rasch wuchs.
Und dann war er alt.
Schneller und noch gründlicher als sonst begann Hubert über ein unvorhergesehenes Problem nachzudenken: Was sollte aus seinen weltlichen Gütern werden, wenn das Unvermeidliche einträte? Schließlich hat jeder Mensch nur einen Nachlass, und der will sorgfältig bedacht sein! Den Gedanken, Mariannes Enkel zu seinem Erben zu machen verwarf er …

In Huberts Heimatstadt redete man noch lange davon: Fast eine Million verprasste er in drei Monaten, beschenkte Fremde, stiftete einem Spielplatz und immer wieder rief er 
”Ich dummer Junge!”

Wie unvernünftig, sagten die Leute.